Seit sechs Jahren Klimanotstand in Wil: Wie Stadtmenschen der Hitze trotzen könnten – das rät eine Umweltpsychologin


Die Sommerhitze scheint fürs Erste vorüber. Aber die Thematik der Erderhitzung überdauert. Wie präsentiert sich die Situation in Wil sechs Jahre nachdem die Stadt den Klimanotstand ausrief? Eine Umweltpsychologin erklärt, wie man mit kühlem Kopf ins Handeln kommt.

Sie sucht das, was in Wil wächst: Umweltpsychologin Teresa Dawson.Bild: Mark Schoder

Schon um 10 Uhr brennt die Sonne auf den Wiler Bahnhofplatz. Der Asphalt flimmert, kein Wind, kein Schatten – die Hitze staut sich. Teresa Dawson quert den Platz und findet Schatten im Café des Cinewil. Sie arbeitet als Umweltpsychologin und unterstützt die Gruppe Psychologists for Future. Dawson ist der Region Wil verbunden: Hier lebt ihre Familie.

Hitze verkürzt die Geduldschnur, macht Menschen aggressiv – besonders jene, die sich nicht anpassen können, in schlecht isolierten Gebäuden leben oder draussen arbeiten müssen. Extremwetter generell schlägt auf das Gemüt. Laut einer Umfrage der SRG bekümmert der Klimawandel hierzulande 70 Prozent der Menschen.

Psychologin Teresa Dawson will die Menschen einladen, mitzumachen.Bild: Mark Schoder

Dawson setzt sich seit der Coronapandemie mit Mensch-Umwelt-Beziehungen auseinander. Das Bewusstsein für Klima und Umwelt will sie schärfen. Dafür nutzt Dawson «Focusing»: eine Methode, die auf körperliche Empfindungen zielt, um Achtsamkeit zu trainieren. Diese soll Empathie und das Selbstwirksamkeitsgefühl fördern.

Die Zeit fehlt, der Stillstand lähmt

Dawson rät, Trauer zuzulassen, wenn Zikaden und Zilpzalpe in Wäldern verstummen oder Grünes dem Hitze-Braun weicht. «Um die sichtbaren Folgen der Klimakrise gefühlsmässig an sich herankommen zu lassen, braucht es Mut und Offenheit.» Und man brauche im getakteten Alltag Zeit, privat wie beruflich. «Da sind wir froh, wenn wir unseren Alltag irgendwie durchbringen, mit dem Job und Kindern. Wie sollen wir uns da noch ums Klima kümmern», fragt Dawson. Sie nennt das Beispiel der Klimaseniorinnen, die genug Zeit hatten, als sie die Schweiz wegen unterlassenem Klimaschutz verklagten: «Die haben eine riesige Arbeit geleistet.»

Genau da setzt auch Dawsons Kritik an der Wiler Politik an. Die Lokalpolitik motiviere nicht zum Wandel, agiere visionslos und ergreife selten die Initiative. Die Stadt stecke etwa im Autoverkehr fest. Ein autofreier Tag? «Würde nur polarisieren», sagt sie.

«Hitzeschutz findet bisher nur auf dem Papier statt»: Stadtparlamentarier Sebastian Koller (Grüne Prowil) kritisiert Wiler Behörden

Wenn wir vom Hitzeschutz in Wil sprechen: Welche konkreten Massnahmen können wir heute mit eigenen Augen sehen?

Sebastian Koller: Spezifische Massnahmen im öffentlichen Raum wurden meines Wissens noch keine umgesetzt. Die Fachpersonen im Planungswesen haben zwar den Handlungsbedarf erkannt und versuchen, der Problematik Rechnung zu tragen. Das passiert vor allem im Rahmen der laufenden Ortsplanungsrevision. Aber der Hitzeschutz findet bisher nur auf dem Papier statt.

Warum?

Die Behörden, die konkrete Projekte bewilligen und umsetzen, sind ungenügend sensibilisiert. So werden weiterhin Projekte realisiert, die punkto Hitzeschutz völlig unzeitgemäss sind. Die kürzlich fertiggestellte Überbauung «Neualtwil II» liefert das Musterbeispiel einer schlecht durchdachten Aussenraumgestaltung: Zwischen den Baukörpern gibt es riesige Flächen, die unnötigerweise versiegelt wurden. Beim Projekt «Neubau Unterführung Hubstrasse» forderten die Grünen Prowil im Parlament, der Hitzeproblematik mit zusätzlichen Begrünungen entgegenzuwirken. Die Empfehlung wurde jedoch abgelehnt.

Gibt es Aktionen in Wil, die aus Ihrer Sicht besonders gut funktionieren, weil sie Menschen zusammenbringen?

Die lokale Naturgruppe Salix hat im vergangenen Jahr das Projekt «Stadtoasen» lanciert. Eines ihrer zentralen Ziele ist der Hitzeschutz. Die Resonanz zur Projektidee ist durchwegs positiv, doch von einer Umsetzung sind wir noch weit entfernt. Weiter vorangeschritten ist die Planung des Stadtparks Obere Weierwise. Hierbei handelt es sich um ein Grossprojekt, das mit seinen offenen Wasserflächen einen stark positiven Effekt auf das Stadtklima entfalten könnte. Auch diese Pläne kommen in der Bevölkerung gut an. Aufgrund der aktuellen Finanzlage der Stadt Wil besteht aber die Gefahr, dass solche Zukunftsinvestitionen verzögert werden.

Wenn Sie einen Spaziergang durch Wil machen: Wo sehen Sie Orte, an denen sofort gehandelt werden müsste?

Handlungsbedarf besteht eigentlich überall, wo die bauliche Dichte hoch ist. Insbesondere bei Strassenräumen im Stadtzentrum, die der Sonne ausgesetzt sind, ist die Sommerhitze schon heute schwer erträglich. Da ein wirksamer Hitzeschutz bauliche Massnahmen erfordert, ist sofortiges Handeln kaum möglich. Projekte müssen seriös geplant werden und dann die politischen und rechtlichen Bewilligungsverfahren durchlaufen. Das braucht Zeit.

Also bewegt sich vorerst nichts beim Thema Hitzeschutz?

Mich ärgert, dass das Problem von den Behörden viel zu lange ignoriert wurde – zum Teil bis heute. Hätten sie den Hitzeschutz bereits vor zehn, zwanzig Jahren miteingeplant, könnten sie heute Lösungen umsetzen. Als Jurist beschäftigt mich aktuell die Frage, ob der Hitzeschutz bei Bauvorhaben gestützt auf das Umweltschutzgesetz eingefordert werden kann. Ein entsprechendes Gerichtsurteil würde die Behörden dazu zwingen, das Thema endlich ernst zu nehmen. (msc)

Die Sonne brennt auf den Wiler Asphalt, wie in der Oberen Bahnhofstrasse.Bild: Marius Eckert

Zwar rief Wil 2019 den Klimanotstand aus – als eine der ersten Städte des Landes – und will bis 2050 klimaneutral sein. «Wieso», fragt Dawson, «müssen wir gegeneinander sein, wo es doch um unser aller Wohl ginge?» Stadt und Land, Alt und Jung sollten sich unterhaken, um Hitzefolgen zu begegnen, fordert die Psychologin. Nur dann kann ein Ruck durch die Gesellschaft gehen und Wandel geschehen – «soziale Kipppunkte» nennt das die Zukunftsforschung.

Mit dem Park an der Weierwise soll in Wil ein Erholungsort entstehen.Bild: zvg

So sieht die Stadt Wil ihre «grünen» Aktivitäten

«Die Stadt Wil nimmt die Herausforderungen der Klimakrise und insbesondere den Hitzeschutz ernst», heisst es auf Nachfrage. In der Stadtplanung würden heute gezielt Kühlmassnahmen eingeplant: Schatten durch Bäume, Brunnen, begrünte Freiflächen, wasserdurchlässige Beläge und Versickerungsmöglichkeiten für Regenwasser. Ziel sei es, «öffentliche Räume auch in heissen Sommern nutzbar zu halten». Neben dem Hitzeschutz verweist die Stadt auf weitere Klimamassnahmen: vom Biodiversitätsprogramm über eine erneuerte Fahrzeugflotte bis zur Energiegewinnung aus Klärgas. Die Stadt fördere zudem Solaranlagen und den Langsamverkehr. Allerdings wird eingeräumt, dass die Strassen zu Stosszeiten überlastet seien. Auch die Kritik an «Neualtwil II» sei «nachvollziehbar», schreibt die Stadt, da die Überbauung nicht mehr aktuellen Umweltstandards entspreche, jedoch durch «Rechtsmittelverfahren erheblich verzögert» wurde. Verspätete Projekte wie die Weierwise seien weniger ein Zeichen von Stillstand, sondern hingen mit Verfahren, Auflagen und der Koordination mit Dritten zusammen. Das Vorprojekt komme im Herbst ins Parlament, die Erkenntnisse aus dem Projekt «Stadtoasen» fliessen in den Richtplan ein. (msc)

Kleine Taten mit grosser Wirkung

In Hitzewochen bräuchten auch Ostschweizer Schulen und Betriebe eine Sommerstruktur, etwa eine Siesta wie in südlichen Ländern, sagt Dawson. Wer mehr auf den Körper hört, pausiert und sich schont, lebe gesünder. Selbstfürsorge zu lernen sei wichtig, um mit den wandelnden Lebensbedingungen umzugehen.

Dawson rät, statt zu massregeln, vermehrt zu Aktionen, die die Freude am gemeinsamen Tun fördern. Sie will einladen und sagt: «Verspricht die Veränderung ein Mehr an Lebensqualität, öffnen wir uns.» Verzicht mache hingegen trotzig. So funktioniere die Psyche mit dem Belohnungssystem im Hirn.

Dawson empfiehlt gemeinsames Müllsammeln oder den Kampf gegen Neophyten. Danach stossen die Teilnehmenden bei einem Apéro an. In Basel könne man eine Baumpatenschaft übernehmen. In Zürich, Winterthur und Luzern befreien die Asphaltknackerinnen Bäume von ihrem Asphaltkorsett, säen neues Grün und kühlen so die Stadt, mit dem Segen der jeweiligen Gemeinde.

Zudem schafft Dawson Räume wie das Klima-Café in Zürich, in denen sich Menschen über Klimagefühle austauschen. Mit der Klimakrise nicht alleine zu sein, befreie, sei mitunter lustig und bestärke die Teilnehmenden, klein anzufangen: Warum nicht den Essig im Gurkenglas auffangen und damit Salat anmachen? «Natürlich geht es nicht darum, das Klima zu retten, aber wir wollen uns anstecken.»


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